Die wiedergefundene Zeit Investigating Lost Time (english version)
Hermann Wolf
Mutmassungen zu Bildern von Andreas
Jauss 1997 - 1998
Es se i eine erste Bemerkung gemacht, was das
Anbringen der Bilder selbst, also deren gewuenschte
Praesentation seitens des Kuenstlers betrifft. Die im
Format einheitlichen Bildsegmente werden bevorzugt zu
sogenannten Bloecken akkumuliert und montiert.
Dies kann den Kuenstler gar dahinführen, den gesamten
Ausstellungsort mit den Tableaus zu überziehen. Die
Selektion, beziehungsweise die Auswahl der zu haengenden
Bilder scheint
beliebig, lediglich das Vermischen der "Genres"
(Zit. A. Jauss) ist dabei von Bedeutung.
Die bevorzugt dem Stadtraum
entnommenen Sujets vermengen sich mit Innenansichten von
Räumen (Interieurs), close-ups, den frühen film-stills
vergleichbar, Motive, die der Künstler diversen
Nachrichtenmagazinen, Reiseberichten oder dem vorhandenen
Fundus der Bildarchive unserer Kunst-geschichte entnimmt.
Die ses Suchen und
Auffinden der Themen, dieses Gemisch aus
Aktualität, Vergessenem und noch Erinnerbarem, ist
zugleich auch der Versuch, die "Ecksteine"*1
freizulegen, auf denen das Gebilde Wirklichkeit zu
ruhen scheint: es ist der Versuch die Dinge -
indem sie dekonstruiert werden - zu benennen.
"Was erzaehle ich wohl von
diesem Augenblick? Warum sage ich von ihm ebensoviel wie
vom folgendem? Wissen wir denn, was wichtig ist? Was für
eine Anmassung liegt doch in der Wahl! - Betrachten wir
lieber alles mit gleicher Aufmerksamkeit (...)" Dies
die Forderung des Protagonisten aus André Gides Roman Paludes,
um dann fortfahrend
sich selbst zu befragen "(...) Betrachten! Was sehe
ich? Drei Gemuesehaendler ziehen vorbei. Ein Omnibus,
schon. Ein Torwart fegt vor seiner Tür. Die
Ladenbesitzer frischen ihre Schaufenster auf. Die Koechin
geht auf den Markt. Schueler gehen zur Schule. Die Kios ke erhalten ihre Zeitungen; eilige Herren
kaufen sie. Man stellt vor einem Café die Tische auf
(...)"*2
Szenen einer scheinbar
eingefrorenen Realität, Handlungs-momente, die in ihrer
Alltaeglichkeit das Muster ihrer Wiederholung in sich
tragen, selbstreferentielle Erfüllungen ohne
Erkenntniszuwach s, vollendet in
ihrer temporaeren Einzigartigkeit.
Variationen dieser Partikularien
sind Gegenstand der Bildwelt des Kuenstlers Andreas
Jauss. Doch die Bilder zeigen uns keine starren,
stabilen, gesicherten Identitäten; dieses Verharren ist
und bleibt truegerisch, es sind im aeußersten Falle gar
antizipierte Katastrophen, ein de stabilisiertes
Gefüge, welches die Schnittstelle markiert von noch
nicht Geschehenem und den Implikationen einer wie auch
immer gearteten action.
Neben dem Versuch, sich unserer
sensualistisch wahrnehmbaren Umgebung zu versichern,
findet hier vor allem auch der Versuch statt, das Problem
der Repraesentation zu reflektieren, was eine Befragung
erfordert nach Abbildhaftigkeit des modernen
Lebensgefuehls und den alltaeglich gemachten Erfahrungen. "Die Lage wird dadurch
kompliziert, dass weniger denn je eine einfache
Wiedergabe der Realitaet etwas über die
Realitaet aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder
der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die
eigentliche Realitaet ist in das Funk tionale
gerutscht: die Verdinglichung der menschlichen
Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren
nicht mehr heraus. Es ist also tatsaechlich etwas
aufzubauen, etwas Kuenstliches,
Gestelltes. Es ist also ebenso tatsaechlich
Kunst noetig."*3
Wenn die Wirklichkeit gemaess B.
Brecht also tatsächlich eine Konstruktion ist,
dann unterliegt das Unterfangen des Kuenstlers dem
Streben nach Wiederaneignung von Wirklichkeit*4.
Das fokussieren von Bruchstellen, Uebergaengen, von
Zeit-Raum-Konstellationen, das Zerschneiden und Zergliedern
der Dinge, um diese dann erneut wiederum als sogenanntes
Ganzes zusammenzufügen, ist dem zapping als
Funktionsprinzip, oder sollte man sagen als
Organisationsprinzip von Bildhaftigkeit und Au ssagebedingung, analog; dort, wo sich
taeglich ein millionenfaches Publikum auf millionenfache
Weise individuell bedient und das Angebot der Bilder,
dank dem vertrauten Umgang mit der Fernsteuerung, auf
seine Weise millionenfach unterschiedlich anordnet. Zudem
beweist uns das taegliche Konsumieren von Fernsehbildern,
dass beim Eintritt der Katastrophe, i n Form eines Erdbebens, eines Feuerbrandes,
einer Flutwelle - die Liste wäre an dieser Stelle ohne
weiteres fortsetzbar - Naturgewalten in
sekundenschnelle ein lang vorbereitetes und gesichertes
Gefüge zerreissen: es tut sich was.
Wechseln wir den Sender und es tut
sich was - und sei es auch nur das Angebot einer
verbesserten Wa schemulsion
- versuchen wir, die Intervalle immer kuerzer zu legen, zappen
wir konsequent und es wird uebrigbleiben, das gezappte,
prophetische Rauschen des guten, alten
Fernseh(schluss)bildes von ehemals: wir haben sie
wiedergefunden, die Zeit.
Zeit
Minuten
![](VCOUNTER.GIF)
*1 Paul de Man in: Derrida,Jaques Memoires ;
für Paul de Man, Passagen 1988
*2 Gide, Andre´ Paludes Suhrkamp,1960
3* Brecht,B. Breuer,Gerda (Hrsg) Aussenhaut+Innenhaut;Photographie
und Architektur, Henry van der Velde Gesellschaft
Hagen 1997
4*vgl. Konstruktivismus; Geschichte und
Anwendung DELFIN 1992. Suhrkamp, Wissenschaft
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